Landwirtschaft und Ernährung

Orangen

Armut

Die Ernährungssituation verschlimmert die allgemeine Gesundheitslage ebenfalls. 50% der Bevölkerung gilt als dauerhaft unterernährt. Die gesundheitlichen Folgen der Mangelernährung bekommen insbesondere alte Leute und Kleinkinder zu spüren. Zahnausfall und Wachstumsstörungen sind die Folge. Auch Krankheiten wie Lepra, Pest und Tuberkolose sind neben den allgegenwärtigen Tropenkrankheiten wie Malaria und Dingue auch heute noch in einigen Regionen Madagaskars anzutreffen.

 

Das Hauptproblem und der Verursacher der meisten Krankheiten bleibt die Unterernährung und eine damit einhergehende Fehlernährung: 85% der Fälle von Kindersterblichkeit hängen mit Unterernährung zusammen. Die Säuglings- und Kindersterblichkeit liegt bei 110 von 1000 Geburten.

Die Nahrung ist einseitig auf das Essen von Reis ausgerichtet. Doch nicht einmal davon gibt es genug für alle. Eine normale Ernährung sollte 400 Gramm geschälten Reis pro Kopf und Tag betragen, was einer theoretischen Menge von 221 Kilo pro Jahr entspricht. Längst nicht alle Reisbauern schaffen es, die entsprechende Menge Reis für ihre - oft zahlreiche - Familie zu ernten. Natürlich sucht jede Familie, ihren Speiseplan durch Maniok und Mais, Gemüseblätter und etwas Fleisch zu bereichern. Doch sehr oft genügt der Vorrat nicht bis zur nächsten Ernte. Und noch häufiger stellt sich durch das ausschließliche Essen von Reis eine krasse Fehlernährung ein. Leidtragende davon sind vor allem die Kinder.

 

Auffallend sind die unglaublich schlechten Zähne eines grossen Teils der Bevölkerung, vor allem auf dem Hochland. Dies mag auf einseitige Ernährung (Reis) zurückgehen, die Madagassen hingegen führen diesen Umstand auf den Mangel an Kalzium zurück.

 Die Universität Mahajanga bildet hunderte von Zahnärzten aus: allerdings findet nur ein geringer Teil der ausgebildeten Zahnärzte eine Arbeit im Gesundheitsministerium und für viele bleibt die Eröffnung einer eigenen Praxis mangels Finanzen ein unrealisierbarer Traum.

Eng mit dem Gesundheitszustand der Bevölkerung verbunden sind Wasser und Hygiene. Zwar ist das Herbringen von sauberem Wasser für den täglichen Bedarf schon ein grosses Problem, doch die Evakuierung der Abwässer und die Verhinderung der Übertragung von Krankheitserregern stellt eine noch so gut wie ungelöste Herausforderung. In den Städten sind nur 3% der Abwässer kanalisiert. Auf dem Land existieren keinerlei Massnahmen zur Evakuierung von Abwässern, ebenso wie Toiletten und Latrinen weitgehend fehlen. Die Stadt Fianarantsoa hat bloss zwei öffentliche Toiletten, wobei eine defekt ist.

 

Nur 55% der 220 Orte Madagaskars mit mehr als 2000 Einwohnern haben Wassersysteme, die allerdings in etliche Fällen nicht mehr funktionieren. 

Keine 10% der ruralen Bevölkerung hat Zugang zu akzeptablem Trinkwasser in genügender Quantität und in tolerabler Distanz (je nach Topografie 500 m). In den Dörfern auf dem Land existieren kaum Wasserversorgungsanlagen. 33% der Landbevölkerung nimmt ihr Wasser aus Flüssen, 39% von Quellen und 17% aus Brunnen. 10% fängt Regenwasser auf.

Periode de soudure

Ein großes Problem, wenn nicht gar das Hauptproblem der madagassischen Bauern, ist die Frage des Landbesitzes. Über die ganze Insel verteilt befinden sich schätzungsweise nur 30 - 50% des bearbeiteten Landes im Besitz des Bauern, der grössere Teil wird in Pacht bearbeitet, wobei der Besitzer bis zur Hälfte der Ernte als Abgabe verlangt. Diese Situation animiert den Pächter natürlich weder zu Investitionen (z.B. Anlegen von Bewässerungskanälen) noch zu Verbesserungen (Einsatz von Dünger oder qualitativ besserem Saatgut). Damit einhergehend stellt sich überall die Frage des traditionellen Bodenbesitzes: kollektiver Dorfboden gegenüber individualisiertem Grundbesitz.

 

Die wohl größte Herausforderung des madagassischen Staates bleibt die Durchsetzung einer klaren Politik bezüglich des Grundbesitzes. Entsprechende Reformen, so dringend sie auch sind, könnten allerdings jede Regierung zu Fall bringen - aber auch die nagenden Probleme von Armut und Ernährung lösen.

 

Trotzdem liegt der Schlüssel zu einer hoffnungsvolleren Zukunft Madagaskars in erster Linie in der Landwirtschaft mit dem obersten Ziel, die Ernährungslage der Bevölkerung zu verbessern. Zu erreichen wäre dies in einer effizienteren Landnutzung einerseits und in verbesserten Landbaumethoden andererseits, ergänzt durch ein zuverlässiges System des Ankaufs und der Verteilung von Ernte und Saatgut. Der Ertrag des bevorzugten Grundnahrungsmittels Reis sollte drastisch angehoben werden, dazu sollten sekundäre Produkte (Maniok, Kartoffeln, Mais) ebenso wie Leguminosen (Erdnüsse, Soja) vermehrt geerntet werden. Dies zu erreichen wäre durch ertragsstärkere Arten und bessere Anbaumethoden möglich.

 

Die Ausdehnung der Ackerflächen bietet eine weitere Lösung, die allerdings nur beschränkt anwendbar ist: Investitionen (Dammbau, Wasserkanäle) müssten gemacht werden, und dies wohl oft auf Kosten von Wald und Flora. Oder aber die Flächen des inzwischen unrentablen Kaffees würden mit Reis bepflanzt, denn pro Hektare liegt der ökonomische Nutzen von Reis inzwischen wesentlich höher als jener des Kaffees.

Bevölkerungswachstum und Landknappheit haben in vielen Regionen zu einem großen Druck auf das Landwirtschaftsland geführt. Obwohl in Madagaskar an sich genügend potentielle Landwirtschaftsfläche vorhanden wäre, werden diese Gebiete kaum urbar gemacht: traditionelle Vorschriften, unklare Besitzverhältnisse und Mangel an Investitionskapital verhindern oft die Bebauung von neuen Feldern, ebenso wie der Mangel an Wasser. So hat die Suche nach Land immer wieder zu umfangreichen Migrationen geführt - vor allem vom Hochland in Richtung Westen. Dort entstanden neue Siedlungen mit einer beachtlichen Produktion, aber die Frage des Landbesitzes blieb zumeist ungelöst.

 

Übernutzung der Anbauflächen, Brandrodungsfeldbau, Weidebrand und Abholzung haben auf Millionen von Hektaren irreparable Schäden hinterlassen: Flora und Fauna leiden darunter und nicht zuletzt der Mensch, der Opfer und Täter ist.

Ein weiteres Problem bildet die traditionelle Fixierung der madagassischen Bauern auf den Anbau von Reis, dies auch in Zonen, in denen andere Produkte (z.B. Hirse) wesentlich mehr abwerfen würden und bezüglich Wasser und Schädlingen auch risikofreier angepflanzt werden könnten. Rund 40% der gesamten Ackerfläche wird mit Reis bepflanzt.

Die Oberfläche Madagaskars (58,7 Mio. ha; 587’041 km2) bietet 2,52 Mio. ha (4,3%) landwirtschaftlich nutzbare Fläche. Mehr oder weniger regelmässig werden jedoch nur 1,76 Mio. ha (3% der Landesfläche) bebaut und davon bloss 0,5 Mio. ha (ein Prozent der Landesfläche) dauernd genutzt. Durch Besetzung von Neusiedlerland wurde diese Fläche allerdings in den letzten Jahrzehnten ausgeweitet, wie auch rein rechnerisch eine Erhöhung der Produktion stattfand, diese Faktoren hielten aber bei weitem nicht mit der Bevölkerungsentwicklung Schritt. Keine 3% der bebauten Fläche wird mit ertragreicherem Saatgut bepflanzt.

 

Das große Problem liegt im geringen Hektarertrag der madagassischen Reisfelder. Die Gründe dazu sind vielfältig. Zum einen sind die Bauern infolge der niedrigen Preise und der großen Evakuierungsprobleme in etlichen Gebieten ohne Strasse kaum zu höheren Erträgen und somit zu Mehrarbeit motiviert. Zudem sind viele Reisenklaven von wenigen Händlern abhängig, die den Preis schamlos diktieren. Unzählige Bauern sind bei 'ihrem' Reishändler stark verschuldet. Zudem verkauft der Großteil der Bauern den Reis unmittelbar nach der Ernte, um - einmal im Jahr - zu etwas Bargeld zu kommen. Bäuerliche Genossenschaften zur Selbstvermarktung der Produkte finden sich selten und nur im Ansatz, obwohl durch diese Eigeninitiative die Monopolstellung der Zwischenhändler umgangen werden könnte.  Ebenso sind Getreidespeicher unter eigener Dorfverwaltung selten, obwohl sie vor der neuen Ernte eine Überbrückungshilfe bieten und gar neues Saatgut liefern könnten. So sind die Bauern in der 'période de soudure' (der Nahtstelle zwischen dem Ende des Reisvorrats und dem Einbringen der neuen Ernte) weiterhin gezwungen, Reis zu einem viel höheren Preis zu kaufen: als Nahrung für sich und oft gar auch als Saatgut. Auch heute noch ist für viele Bauern die Zeit des Hungers vor der neuen Ernte eine bittere, jährliche Realität. In ihrer Not ernten sie oft schon den noch unreifen Reis.